Ein Adlerjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus;
Ihn traf des Jägers Pfeil, und schnitt
Der rechten Schwinge Sennkraft ab!
Er stürzt’ herab in einen Myrtenhain,
Fraß seinen Schmerz drey Tage lang,
Und zuckt’ an Qual
Drey lange, lange Nächte lang;
Zuletzt heilt’ ihn
Allgegenwärtger Balsam
Allheilender Natur.
Er schleicht aus dem Gebüsch hervor,
Und reckt die Flügel, ach!
Die Schwingkraft weggeschnitten!
Hebt sich mühsam kaum
Am Boden weg,
Unwürdger Raubbedürfniß nach,
Und ruht tieftraurend
Auf dem niedern Fels am Bach,
Und blickt zur Eich’ hinauf,
Hinauf zum Himmel,
Und eine Thräne füllt sein hohes Auge.
Da kömmt muthwillig durch die Myrtenäste
Hergerauscht ein Taubenpaar,
Läßt sich herab, und wandelt nickend
Ueber goldnen Sand am Bach,
Und ruckt einander an.
Ihr röthlich Auge buhlt umher
Erblickt den Innigtraurenden.
Der Täuber schwingt neugiergesellig sich
Zum nahen Busch, und blickt
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
Du trauerst, liebelt er;
Sey gutes Muthes, Freund!
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
Nicht alles hier?
Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun,
Der vor des Tages Glut dich schützt?
Kannst du der Abendsonne Schein,
Auf weichem Moos am Bache, nicht
Die Brust entgegenheben?
Du wandelst durch der Blumen frischen Thau,
Pflückst aus dem Ueberfluß des Waldgebüsches dir
Gelegne Speise, letzest
Den leichten Durst am Silberquell.
O Freund, das wahre Glück ist die Genügsamkeit,
Und die Genügsamkeit hat überall genug!
O Weise, sprach der Adler, und trüb’ erst
Versinkt er tiefer in sich selbst,
O Weisheit! du redst wie eine Taube.
(Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen